• - Bild: Anemone Rüger, Christen an der Seite Israels
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Galjas Lied – Die Geschichte einer Holocaust-überlebenden

Anemone Rüger - 28. Februar 2018

Als wir das Ortsschild passieren merken wir an den überdimensionalen Schlaglöchern wie weit Kasatin von der Infrastruktur des Grossraums Kiew entfernt ist. Ständig muss unser Fahrer Vollbremsungen machen und das Lenkrad herumreissen, damit wir nicht aufsetzen. Wie die Festung einer Geisterstadt thront die monströse Bahnhofsanlage aus Sowjetzeiten an der Hauptstrasse; die schweren Oberleitungen teilen den grauen Himmel in unruhige Streifen. Damals war Kasatin einer der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte zwischen Moskau und Schitomir. Wir sind auf der Suche nach Holocaustüberlebenden die unsere Hilfe brauchen.

Galja Gorodinskaja bittet uns in ihre Wohnun

Auch aus der späteren Sowjetzeit stammt der fünfstöckige Block den wir jetzt betreten. Die meisten Menschen in den Städten wohnen in solchen Wohnsilos. Man muss sich eine Menge merken um den richtigen Eingang zu finden: die Hausnummer, die Nummer des Eingangs, den Code des Schlosses an der Eingangstür, das Stockwerk und die Nummer der Wohnung.

Eine zarte Gestalt öffnet uns die Tür in der Strasse der Helden. „Kommt herein, kommt herein! Ich heisse Galina oder Galja, Galja Gorodinskaja. Entschuldigt, dass es bei mir so primitiv aussieht!“ Wir folgen ihr in das winzige Wohnzimmer das ihr wohl gleichzeitig als Schlafzimmer dient; das Bett ist ausgezogen und mit einem Teppich bedeckt. Noch bevor wir uns setzen erklärt sie uns: „Eigentlich heisse ich anders, Litwinjenko mit Nachnamen. Aber als ich drei war wurde meine Mutter erschossen und dann hat mich eine Ukrainerin adoptiert.“ Wie bitte? Jetzt noch mal langsam.

„Also, ich bin 1940 in Kosatin geboren. Mein Vater hiess Boris, er war Ukrainer. Meine Mutter war jüdisch, sie hiess Chawa Abramowna Rosenboim. Als die Deutschen einmarschierten wurde sie erschossen.“ Aber wo?

„Hier in Kasatin, am Stadtrand, an dem Abhang wo das Massengrab ist.“ Es dauert einen Moment bis uns klar wird, dass wir wenige Tage vor unserer geplanten Gedenkfeier anlässlich der Enthüllung einer Gedenktafel an der Erschiessungsstelle von Kasatin die einzige Überlebende gefunden haben.

„Ich hatte noch eine kleine Schwester“, fährt Galja fort. „Mein Vater war ganz auf sich gestellt.

Eines Tages kam eine ukrainische Frau aus dem Ort zu ihm und sagte zu ihm: ,Was wirst du mit den Mädchen machen? Es ist Krieg, es ist gefährlich für sie. Schau, ich kann keine Kinder bekommen. Gib mir deine ältere Tochter, ich werde mich um sie kümmern.‘ Sie hat mich gerettet!“, sagt Galja mit einem dankbaren Lächeln auf dem Gesicht. „Sie hat mich adoptiert und aufgezogen. Sie hat alle meine Daten geändert, sogar mein Geburtsjahr von 1940 auf 1941 und sie gab mir ihren Nachnamen Gorodinskaja. Oft musste sie mich verstecken. Aber sie hat mich durchgebracht. Und meine kleine Schwester hat den Krieg bei meinem Vater überlebt.“

Galja wurde Bauingenieurin und arbeitete jahrzehntelang in einer Fabrik. Ihr Mann ist bereits verstorben. Die Tochter wohnt im selben Ort, vom Sohn hört sie kaum etwas. Unterstützung bekommt Galja von offizieller deutscher Seite nicht, denn: „Ich habe keine Papiere mehr um nachzuweisen, dass meine Mutter Jüdin war. Ich war ja noch ganz klein. Als ich adoptiert wurde gab es auch keine offiziellen Unterlagen. Ich habe gar nichts. Ich weiss nicht einmal wo meine Mutter geboren wurde, irgendwo bei Odessa.“

Galja ist eine von denjenigen die der Zweite Weltkrieg doppelt und dreifach getroffen hat. Da sie ihre Herkunft nicht nachweisen kann, kann sie weder nach Israel ausreisen noch deutsche Wiedergutmachung beantragen. Das Lebensmittelpaket bringt ein Strahlen auf ihr Gesicht. Wir laden sie zur Feierstunde am Montag ein und sie verspricht, etwas aus ihrer Geschichte zu erzählen.

Eisig pfeift der Wind den Hang hinab an dem im Herbst 1942 unter deutscher Besatzung 293 Juden des Ortes Kasatin erschossen wurden. Vertreter der Stadt sind gekommen, einige Mitglieder der klein gewordenen jüdischen Gemeinschaft von Kasatin und eine Gruppe von holländischen, deutschen und österreichischen Gästen, die für eine Arbeitsreise mit Christen an der Seite Israels hier sind.

Aus dem kleinen Lautsprecher erklingt erst die ukrainische, dann die israelische Nationalhymne. Wir ziehen die Mäntel noch enger zusammen und versuchen uns vor dem

Galja während der Gedenkveranstaltung

kalten Wind zu schützen. Damals mussten sich die Juden vor der Erschießung noch ausziehen, die Kleider wurden auf dem Markt verkauft oder nach Deutschland gebracht.

In ihren Reden erinnern Stadtvertreter, Vorstandsmitglieder und Pastoren an die tragischen Ereignisse und bitten um Vergebung. Galja erzählt wie sie überlebt hat und wie Chawa Abramowna Rosenboim hier ermordet wurde. Und wie dankbar sie ihrer Pflegemutter ist und uns – dafür, dass wir gekommen sind und uns für ihre Geschichte interessieren. „Nie hätte ich gedacht, dass eines Tages die Deutschen wiederkommen und um Verzeihung bitten werden“, sagt Galjas Freundin.

Jemand stimmt das „Schma Israel“ an, das heiligste jüdische Gebet. Es hallt über das ganze Tal der Toten bis an das andere Ende wo die zusammengefalteten Sonnenschirme auf den nächsten Sommer warten. „Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist Einer…“ Dann verklingt die uralte Melodie.

Aber Galja singt immer noch. Ein überirdisches Strahlen liegt auf ihrem Gesicht, sie ist in einer anderen Welt, vielleicht in der Zeit als Chaja Rosenboim noch lebte.

Sie singt, mit der Stimme eines kleinen Mädchens, unbeschwert… als sänge sie das jäh abgebrochene Lied ihrer Kindheit zu Ende. Und wir stehen staunend da, Zeugen eines Wunders.

Wie Sie helfen können

Es besteht die Möglichkeit Lebensmittelpakete zu finanzieren. Ein Paket kostet CHF 12. Diesen Winter warten 8.000 bedruckte Tüten darauf, mit Lebensmitteln gefüllt zu werden und Freude in ein jüdisches Herz zu bringen.

Mit einer Spende für unsere Alijah-Arbeit können Sie ausserdamdabei helfen, dass Holocaustüberlebende und andere Jüdische Personen von der Ukraine nach Israel zurückkehren können. Alle Spende- und Bankangaben finden Sie hier.

Arbeitsreisegruppe Christians for Israel / Christen an der Seite Israels

 

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