• Warum fokussiert sich Kritik häufig auf Israel, wenn es um den Nahen Osten geht? Der Nahost-Experte Assaf Zeevi hat nachgeforscht – Dr. Tobias Krämer hat die Ergebnisse zusammengefasst. Foto: Gerd Altmann | Pixabay
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Warum gerät immer Israel in das Fadenkreuz der Kritik? Fünf Beobachtungen.

editor - 23. August 2025

Verfolgt man den aktuellen Diskurs im Zusammenhang mit dem Gazakrieg, fällt auf, dass sich der Großteil der Kritik auf Israel richtet. Warum ist das so? Im Juli 2025 brachte die Podcast-Plattform Bibletunes ein Interview mit dem Nahost-Experten Assaf Zeevi heraus. Die folgenden Ausführungen greifen auf zentrale Aussagen aus diesem Gespräch zurück. Eine Zusammenfassung von Dr. Tobias Krämer, Leiter Theologie und Gemeinde bei Christen an der Seite Israels (CSI).

Von Dr. Tobias Krämer

Wenn man die Berichterstattung über den Nahen Osten langfristig verfolgt, drängt sich eine Beobachtung auf: Am Ende ist es immer Israel, das am Pranger steht. Das kann man in diesen Tagen wieder sehen. Eine große Anzahl europäischer Staaten setzt Israel unter Druck, den Krieg in Gaza zu beenden. Seltsamerweise setzt kaum einer die Hamas unter Druck, sich zu ergeben und so den Weg freizumachen für den Frieden.1

Dieses Vorgehen überrascht, denn die Ergebnisse sind vorhersehbar. Wenn Israel aus dem Gazastreifen abzieht, überlebt die Hamas, der Raketenbeschuss auf Israel geht wieder los und der 7. Oktober wird sich irgendwann wiederholen. Keine gute Perspektive. Wenn aber die Hamas sich ergibt, ist das palästinensische Volk endlich frei, die Geiseln werden freigelassen, ein neues Kapitel beginnt und in Gaza ziehen am Ende gar Freiheit, Wohlergehen und Frieden ein. Eine große Chance – die Europa nicht zu interessieren scheint.

Das heißt nun nicht, dass man Israels Tagespolitik nicht hinterfragen dürfe. Natürlich darf man das und es gibt auch Anlass dazu. Doch die genannte Grundstruktur fällt auf. Warum wendet sich das Blatt so oft gegen Israel und die Juden weltweit? Warum ist das so? Dazu die folgenden Beobachtungen.

Erstens: Identifikation mit Schwachen und Unterdrückten

Die Menschen im Westen identifizieren sich instinktiv mit Schwachen und UnterdrücktenIhnen will man helfen. Im westlichen Narrativ gelten die Palästinenser als die Unterdrückten. Israel wird als starke Militärmacht gesehen, die Palästinenser als die Schwachen, die dagegen nicht ankommen. Dass Israel oft genug das Opfer ist – bald 20 Jahre Raketenbeschuss aus Gaza, Attentate, Terror, 7. Oktober und so weiter – wird kaum gesehen. Das Leid auf israelischer Seite findet in den Medien nur spärlich Resonanz, die ständige Angst und Bedrohung der Juden fallen durch das Raster der öffentlichen Wahrnehmung.

Was man aber sieht, sind Bilder des starken Israel – und der schwachen Palästinenser. Echte Bilder, aber auch gefälschte. Sie laden regelrecht dazu ein, gegen Israel aufzustehen. Wer nun in den Sozialen Medien laut gegen Israel Position bezieht, gilt als Kämpfer für die gute Sache und bekommt Applaus. Das ist mit wenigen Mausklicks zu erreichen und führt zu einer Flut antiisraelischer Posts. Das Ergebnis: Israel verliert den Medienkrieg und wird zum Sündenbock stigmatisiert.

Zweitens: Schwarz-Weiß-Denken

Menschen mögen Einfaches, Kompliziertes mögen sie nicht. Und was wäre einfacher als das verbreitete Schwarz-Weiß-Denken, Israel sei im Grunde „der Böse“ und die Palästinenser „die Guten“? Der Nahe Osten ist jedoch ein hochkomplexes Gebilde, das (wenn überhaupt) nicht mit einfachen Erklärungen und simplen Schlagworten zu verstehen ist. Hier ringen zwei Gruppen um Heimat, Würde, Sicherheit und Zukunft. Hinter ihnen liegt eine verwickelte Geschichte von Recht und Unrecht, unterschiedlichen Sichtweisen und widersprüchlichem Geschichtsempfinden. Beide Parteien hatten auch nie die Chance, ihren Konflikt austragen (und gegebenenfalls beenden) zu können, denn die Völkergemeinschaft mischte ständig mit, was oft wenig hilfreich war.

Kaum ein Konflikt ist komplexer als dieser. Das westliche Narrativ mit seinem Täter-Opfer-Schema bietet demgegenüber einfache Erklärungen. Das Motto: Israel muss sich ändern, dann wird alles gut. So meint man, die Dinge auf den Punkt bringen zu können. Doch Simplifizierungen dieser Art führen zu Fehleinschätzungen, denn der Schlüssel zum Frieden liegt gar nicht in Israels Hand – er liegt in der Hand der islamischen Nachbarstaaten.

Drittens: moralische Überlegenheit

Der Wunsch nach Vereinfachung mischt sich mit einem weiteren Bedürfnis: moralische Überlegenheit. Menschen lieben es, besser zu sein als andere. Schon von daher hat es eine gewisse Attraktivität, sich den Israelis gegenüber als moralisch überlegen fühlen zu können und ihnen vermeintlich sagen zu können, wie es besser geht. Dazu kommt unsere NS-Vergangenheit. Deutsche wurden an Juden in unsagbarer Weise schuldig. Jeder Deutsche weiß das, manche fühlen sich schlecht dabei, andere widerstreben.

Wirkt es dann nicht wie eine besondere Chance, die Israelis nun als böse brandmarken und selbst als gut dastehen zu können? Dies reicht bis zu dem absurden Vergleich, Israel mache in Gaza dasselbe wie die Nazis in Auschwitz. Dieser Vergleich ist in haarsträubender Weise falsch. Ähnliches gilt für den Vorwurf des Genozids. Israel begeht definitiv in Gaza keinen Genozid (verwendet man das Wort in seiner lexikalischen Bedeutung) – das ist ganz klar. Aber dem Zweck der moralischen Entrüstung dienen solche Verzerrungen allemal.

Viertens: Juden als Kollektiv

In fast schon geheimnisvoller Weise werden Juden als Kollektiv behandelt und gemeinsam für die Politik des Staates Israel zur Verantwortung gezogen. Ein Beispiel: Vor einigen Wochen ging ein antisemitischer Vorfall durch die Medien. Ein Jude wurde von einem Deutschen attackiert und als „du Kindermörder“ beschimpft. Der (falsche) Vorwurf, Israel ermorde in Gaza Kinder, wurde auf jenen Juden übertragen, der in Wahrheit ein unbescholtener Mann war. Diese „Übersprungshandlung“ ist absurd, findet aber statt.

In anderen Konflikten ist das nicht der Fall. So haben Russen auf deutschen Straßen in der Regel nichts zu fürchten, obwohl Putin den Ukrainekrieg führt. Man weiß, dass die Russen hier nichts mit der Politik dort zu tun haben. Im Falle der Juden ist das anders. Juden werden weltweit angefeindet und beschimpft, Buchungen werden storniert, der Zutritt zu Hotels wird verweigert – nur weil Juden Juden sind und scheinbar alle miteinander „zur Rechenschaft“ gezogen werden müssen.

Fünftens: Judenfeindschaft scheint moralisch legitim

Dem Antisemitismus ist es gelungen, sich reinzuwaschen: Judenfeindschaft erscheint als moralisch legitim. Hat man Israel erst einmal die Rolle des Bösen zugewiesen, scheint all das, was einst Antisemitismus war, plötzlich gerechtfertigt zu sein. Extreme Einseitigkeit, verzerrte Darstellung, Weglassung von Fakten, Täter-Opfer-Verkehrung, Wechsel von Ursache und Wirkung scheinen nun legitime Mittel zu sein.

Antisemitische Denkmuster werden auf Israel übertragen und so gerechtfertigt. Prominentes Beispiel ist die jüngst erschienene „Erklärung zu Palästina und Israel“ des Weltkirchenrates. Sie enthält nichts anderes als das einseitige BDS1-Gedankengut, ohne den 7. Oktober auch nur zu erwähnen (wir berichteten). Die drei klassischen Merkmale für Antisemitismus finden sich im heutigen Israelhass beständig vor: Dämonisierung, Delegitimierung, doppelte Standards. Israel als Sitz des Bösen, dessen Existenzrecht (direkt oder indirekt) bestritten wird und an das moralische Standards angelegt werden, die man selbst nie bereit wäre zu erfüllen oder die man bei anderen Staaten nicht anlegt.

Antiisraelismus als Gebot der Stunde – das ist die neuste Entwicklung. Diese Entwicklung wurde möglich, weil man das Massaker vom 7. Oktober als „Befreiungskampf gegen das imperialistische Israel“ interpretiert und jegliche Form von Widerstand als legitim erklärt. Demzufolge darf Hamas Juden abschlachten, ohne dass man daran groß Anstoß nehmen müsste – und man tut es auch tatsächlich nicht. Das Ergebnis: Die Welt wendet sich mit ihrer Kritik gegen Israel, die Hamas aber kommt ungeschoren davon. Diese Verdrehung findet beständig und systematisch statt

Die Gefahr ist real

Der Islamismus hat im Westen einen starken Verbündeten: die latente Antipathie gegen die Juden beziehungsweise gegen Israel, die stets dazu führt, dass am Ende Israel am Pranger steht. Langfristig kann auf diese Weise eine weltweit wachsende Israelfeindschaft entstehen, die bereits im Werden ist. Diese Israelfeindschaft kann dazu führen, dass der Widerstand ausbleiben wird, wenn Israel eines Tages vom Islamismus angegriffen werden wird, um es auszulöschen. Denn die Welt wird Israels Vernichtung – geht die Entwicklung so weiter – als moralisch richtig und gerechtfertigt empfinden. Und sie wird Israel die Schuld am eigenen Untergang geben: Chance vertan, Spiel vorbei. Die Grundsteine für dieses grauenvolle Szenario werden in unseren Tagen gelegt.


Fußnoten:

  1. Erst seit der UN-Konferenz zu Gaza Ende Juli dieses Jahres scheint sich ein Umdenken zu manifestieren; dies legt eine von 17 Staaten – darunter arabische Länder wie Saudi-Arabien und Katar – unterzeichnete Forderung u.a. zur Entmachtung der Hamas nahe.  ↩︎
  2. „Boycott, Divestment and Sanctions (BDS)” ist eine internationale Kampagne, die darauf abzielt, Israel durch Boycott, Desinvestitionen und Sanktionen unter Druck zu setzen und so die Situation für die Palästinenser zu verbessern.   ↩︎

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